Es dauert nicht lang, bis man von Annelies Fröhlichkeit angesteckt wird. Die Achtjährige ist ein Mädchen voller Elan und Lebensfreude. Seit sie drei Jahre alt ist, reitet sie. Das ist ihr großes Hobby. Aber sie liebt es auch genauso zuhause mit ihrem Hund Jeannie zu toben, sich mit Freundinnen zu treffen oder mit den beiden Hauskatzen zu schmusen. Annelie macht im Grunde alles, was andere Kinder in ihrem Alter auch tun.
Dass das heute möglich ist, darauf hatten ihre Eltern Monique und Mathias Wesemann in der ersten Zeit nach Annelies Geburt zwar gehofft. „Aber die Chancen standen damals nicht allzu gut“, sagt Monique Wesemann. Denn ihre Tochter leidet von Geburt an einer seltenen Erkrankung.
Ein Rückblick: Annelie ist gerade erst auf die Welt gekommen, da haben die Ärzte gleich eine schlechte Nachricht. Sie müssen den Eltern mitteilen, dass ihre Tochter nur eine Niere besitzt. Außerdem – und das ist die noch schlimmere Erkenntnis – fehlt dem Kind ein funktionierender Darmausgang. Im Moment der puren Freude über die gerade erst erlebte Geburt ihrer Tochter erfasst die Eltern mit einem Mal die blanke Angst. “Wir wussten damals nicht, was das für Annelie und für uns bedeuten würde. Wir hatten davon noch nie etwas gehört“, erinnert sich ihre Mutter Monique Wesemann.
Annelie leidet an einer seltenen Fehlbildung. Ihr Darmausgang muss im Klinikum Bremen-Mitte wenige Tage nach der Geburt chirurgisch überhaupt erst
geschaffen werden. Auf eine große Operation folgen etwa ein Dutzend weiterer Nachbehandlungen – alles unter Vollnarkose. Es ist eine riesige Belastung für die junge Familie aus Hagen im Bremischen.
Doch am Klinikum Bremen-Mitte sind die Wesemanns genau in den richtigen Händen. Dort hat man sich unter anderem auf sogenannte uro-recto-genitale Erkrankungen spezialisiert – also auf alles, was Blase, Enddarm und Genitalbereich betrifft. Mit fehlenden Darmausgängen – sogenannten anorektalen Malformationen – kennt man sich hier besonders gut aus. Die Klinik für Kinderchirurgie und -urologie ist mit ihrer Expertise 2017 neben den Uni-Kliniken in Berlin, Leipzig und München sogar Mitglied im Europäischen Referenznetzwerk (eUROGEN) für seltene urogenitale Erkrankungen geworden.
Über dieses Netzwerk soll die Erfahrung, die bisher an einigen Kliniken europaweit verstreut lag, gebündelt werden. Der Patient soll davon profitieren, er soll deutlich schneller eine Diagnose und eine dazu passende Behandlung bekommen können, eine grenzüberschreitende Gesundheitsversorgung soll so aufgebaut werden. 24 solcher Referenznetzwerke gibt es – jedes Organsystem ist darin berücksichtigt. Die Anforderungskriterien sind ungemein hoch und werden regelmäßig überprüft.
Etwa 8.000 seltene Erkrankungen sind Ärzten bis heute bekannt. Für Patienten kommen zu der gesundheitlichen Belastung meist weitere Stressfaktoren hinzu. „Sie laufen oft unnötig von Arzt zu Arzt, begleitet von Fehleinschätzungen der tatsächlichen Situation. Und ist die Krankheit einmal erkannt, stehen Betroffene eben wegen der Seltenheit doch erst einmal allein da“, sagt Dr. Eberhard Schmiedeke, Kinderchirurg am Klinikum Bremen-Mitte.
Etwa 130 Kinder mit anorektalen Fehlbildungen behandelt die Klinik aktuell. Mehr als 200 Eingriffe hat man bereits behandelt. Pro Jahr kommen etwa acht neue Patienten hinzu. „Die Fälle sind völlig unterschiedlich ausgeprägt. Jeder Fall ist einzigartig“, sagt Kinderchirurg Dr. Eberhard Schmiedeke.
Am Klinikum Bremen-Mitte haben sie seit Jahren bereits ein interdisziplinäres Team etabliert. Denn neben den körperlichen Schäden kommt meist auch die psychische Belastung hinzu. Stimmt etwas nicht mit Enddarm, Genitalbereich oder Blase, ist das für viele Betroffene ein Tabuthema. Der Stuhlgang ist häufig nicht kontrollierbar, hinzu kommen mitunter unangenehme Untersuchungen an Stellen, an denen man einfach nicht angefasst werden möchte. Nicht wenige Betroffene sind von den Folgen traumatisiert, fühlen sich häufig entwürdigt.
Am Klinikum Mitte gibt es über die chirurgische Expertise hinaus seit Jahren ein sogenanntes Kontinenztraining, bei dem Betroffenen unter fachkundiger psychologischer und physiotherapeutischer Anleitung lernen können, wieder besser mit ihrem Körper und ihrer Situation umzugehen. Die Bremer Kinderchirurgen haben sich diese Idee, auf Empfehlung der Patientenselbsthilfegruppe SoMA e.V., einst im niederländischen Nijmegen abgeschaut und daheim umgesetzt. Mittlerweile unterstützt das Bremer Team die SoMA e.V.dabei, ein ständig breiteres Programm an Selbsthilfe für Menschen mit anorektalen Fehlbildungen anzubieten.
„Vor allem das Kontinenztraining hat uns und Annelie geholfen, mit der Fehlbildung umzugehen“, sagt Vater Mathias Wesemann. Er und seine Frau haben sich für einen offenen Umgang mit der Krankheit entschieden; damit die Situation möglichst normal für ihre Tochter ist. Und so gut wie es Annelie heute geht, wollen sie so anderen Familien, die in einer ähnlichen Situation stecken, Mut machen.
Annelie muss zwar regelmäßig auf ihre Ernährung achten, ihr Magen- und Darmsystem nicht über- aber auch nicht unterfordern. Doch bis auf die tägliche Gabe eines Medikaments ist die Krankheit bis heute völlig in den Hintergrund getreten. Annelie geht ganz normal zur Schule, hat keine Beeinträchtigungen. Dass irgendwann wieder Probleme auftauchen könnten, darauf ist die Familie vorbereitet. Viel stärker im Vordergrund steht bei ihnen aber der Stolz auf ihre Tochter und die Erleichterung, dass ihr ein fast ganz normales Leben ermöglicht wurde.