Gesundheit Nord Klinikverbund Bremen

Die Suche nach dem individuellen Störungsmodell

Gesundheit

Wie psychische Krankheiten entstehen und wie die Behandlung heute aussieht, erklärt Chefarzt Dr. Martin Zinkler in unserer neuen gesund mal 4-Ausgabe.

Psychische Erkrankungen sind so vielfältig wie das Leben selbst. Sie können jeden treffen. So unterschiedlich wie die Symptome können auch die Gründe für ihre Entstehung sein. Manche Verletzlichkeiten tragen wir in uns, manche Belastungen wirken von außen auf uns ein. Fachleute sprechen von äußeren und inneren Bedingungen bei der Entstehung von psychischen Erkrankungen. All dies kann aber auch zusammenkommen und den Betroffenen buchstäblich den Boden unter den Füßen wegziehen. Auch eine erbliche Veranlagung für eine Depression muss nicht bedeuten, dass diese Person tatsächlich eine Depression entwickeln wird. Auf der anderen Seite können auch psychisch sehr gesunde Menschen in Situationen geraten, die ihnen sehr zu schaffen machen, dass sie krank werden und unter den Belastungen zusammenbrechen.

„Unsere Aufgabe ist es, Ansätze zu finden, die den Menschen wieder Halt geben"

„Wir suchen immer nach dem individuellen Störungsmodell“, sagt Dr. Martin Zinkler, Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen- Ost. Das sei anders als in der somatischen Medizin, wo in der Regel erst eine Diagnose gestellt und dann behandelt werde. „Bei uns ist die Diagnose Teil des therapeutischen Weges. Wir müssen an uns Behandler den Anspruch haben, wirklich empathisch verstehen zu wollen, wo die Probleme liegen, und bereit sein, unsere Hypothesen immer wieder infrage zu stellen und zu ändern, wenn wir nicht weiterkommen“, so Zinkler. Auslöser für psychische Probleme können zudem neurologische Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson sein oder somatische Erkrankungen wie Krebs, Herzinfarkte oder Schlaganfälle. Ebenso können chronische Schmerzen Grund für eine psychische Erkrankung, aber auch Teil dieser sein.

Neue Studien untersuchen, ob auch Autoimmunerkrankungen eine Rolle spielen könnten. Die menschliche Psyche ist so vielschichtig, dass es selbst erfahrenen Psychiatern und Psychotherapeuten manchmal nicht gelingt, die Ursachen zweifelsfrei zu klären. Aber das bedeutet nicht, dass sie den Betroffenen nicht helfen können. Ziel sei es laut Zinkler, mit dem oder der Betroffenen ein gemeinsames Verständnis der Erkrankung zu entwickeln. Dann gelte es, passende Behandlungsangebote zu machen und immer wieder zu erfragen, was sich die Patientin oder der Patient wünsche, was ihr oder ihm helfen könne und guttue. Meist sei das eine Kombination aus vielen verschiedenen Therapieangeboten, von Verhaltens- und Kreativtherapien bis hin zu Bewegungsangeboten und Gruppengesprächen, manchmal bewusst begleitet von einer angemessenen Behandlung.

Bei manchen Menschen wird der Leidensdruck so groß, dass sie akut behandelt werden müssen

Die meisten Menschen mit psychischen Erkrankungen finden beim Hausarzt oder beim niedergelassenen Psychiater beziehungsweise Psychotherapeuten die Hilfen, die sie brauchen. Aber bei manchen wird der Leidensdruck so groß, dass sie akut behandelt werden müssen. Die Patientinnen und Patienten, die in die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost kommen, sind meist sehr verzweifelt, haben einen Suizidversuch hinter sich, ihre Wohnung und ihre Arbeit verloren, sind durch Flucht und Vertreibung traumatisiert und von Abschiebung bedroht, leiden unter Alkoholproblemen oder sind aufgrund einer akuten Psychose nicht mehr in der Lage, ihr Leben selbst zu regeln. „Unsere Aufgabe ist es, Ansätze zu finden, die den Menschen wieder Halt geben, Selbstvertrauen und Hoffnung“, sagt Zinkler. Manchmal seien das auch ganz praktische Hilfen, die die Therapie begleiteten oder manchmal auch überhaupt erst möglich machten. Zum Beispiel, wenn es darum gehe, eine Wohnung zu finden und in dieser auch allein klarzukommen oder einen unsicheren Aufenthaltsstatus zu klären, um den Menschen überhaupt wieder Boden unter den Füßen zu verschaffen.

Zinkler möchte weg von einer Psychiatrie, die etwas vorschreibt, die mit Druck und Zwang arbeitet. Viel sei in den vergangenen Jahren da schon erreicht worden, sagt er, aber das reiche ihm nicht. Er möchte Dienstleister sein für Menschen, die Hilfe brauchen. Er möchte Hilfen bieten, die aus freien Stücken gerne angenommen werden, und ein System, in dem die Betroffenen die Wahl haben – zwischen verschiedenen Arten von Behandlungsangeboten und dem Ort, an dem die Behandlung stattfindet. Viele nämlich möchten einen Klinikaufenthalt vermeiden. Da setzt das Bremer BravO-Projekt (Bremen ambulant vor Ort) an. Ganz im Sinne der 2013 vom Bremer Senat auf den Weg gebrachten zweiten Psychiatriereform sollen stationäre Betten abgebaut und dafür sogenanntes „Home Treatment“, also die Behandlung zu Hause, ausgebaut werden. Die Patientinnen und Patienten werden vom Experten- Team aus der Klinik zu Hause besucht und behandelt – im gewohnten Umfeld. Für Zinkler der einzig richtige Weg.

„Für uns Behandelnde ist das ein Auswärtsspiel, für die Patientinnen und Patienten das Heimspiel. Wir befinden uns nicht in unserem gewohnten Umfeld und in den bekannten Hausstrukturen und müssen uns also noch mal mehr anstrengen“, so Zinkler. Für jeden BravO-Behandlungsplatz wird in der stationären Psychiatrie ein Bett abgebaut. Insgesamt wurden bereits 40 Betten in ambulante Plätze umgewandelt. Die Kosten, so Zinkler, blieben dabei dieselben. BravO ist inzwischen für die Stadtteile Ost und Mitte etabliert – trotz Pandemie und Fachkräftemangel. Entsprechende Angebote für die anderen Sektoren Nord, West und Süd, in die die Bremer Psychiatrie aufgeteilt ist, stehen schon in den Startlöchern. Zudem werden bereits bestehende Ambulanzen und Tageskliniken in den Stadtteilen ausgebaut, um den Patientinnen und Patienten alles, was sie brauchen, in ihrem Wohnumfeld bieten zu können.


Aus der Klinik in die Gemeinde

Innerhalb des Bremer Klinikverbundes Gesundheit Nord ist aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Bremen-Ost und dem Behandlungszentrum am Klinikum Bremen-Nord eine Klinik mit kollegialer Leitung geworden. Gemeinsam wird sie von den Chefärzten Dr. Martin Zinkler und Dr. Martin Bührig und den Klinikpflegeleitern Frank Simon und Uwe Schale geleitet. Zusammen wollen sie den Auf- und Ausbau des Home-Treatment-Angebots (BravO = Bremen ambulant vor Ort) in der Stadt vorantreiben.

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