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Seltene Erkrankungen - „Man muss Zweifel zulassen“

Gesundheit

Um eine seltene Erkrankung diagnostizieren zu können, ist oft einiges an Detektivarbeit nötig. Ein Internist und ein Neurologe schildern im Interview ihre Erfahrungen und erklären, worauf es besonders ankommt.

Herr Prof. Ockenga, Herr Dr. von Mering, wie kommt man einer seltenen Erkrankung auf die Spur?
Matthias von Mering:
Wichtig ist, dass man bei dem alltäglichen Grundrauschen im Klinikbetrieb immer auch aufmerksam bleibt und stutzig wird, wenn etwas bei der Diagnostik nicht ganz stimmig ist, wenn da irgendetwas auffällt oder nicht so richtig passt.
Johann Ockenga: So ist es. Man muss wachsam bleiben, Zweifel zulassen und sich immer auch wieder mit Kolleginnen und Kollegen austauschen. Im Laufe der Jahre sammelt man viel Erfahrung – auch mit selten auftretenden Erkrankungen.

Haben Sie ein Beispiel?
Johann Ockenga:
Wir haben beispielsweise mal einen jungen Mann hier gesehen, der immer wieder wegen häufig auftretender Pankreatitis (Bauchspeicheldrüsenentzündung) behandelt wurde. Die Symptome passten zu keiner Diagnose, nicht zum Alter, nicht zum Lebensstil, nicht zu den sonstigen Werten. Man darf nicht vergessen, es gibt Diagnosen, die wie ein sozialer Stempel sind. Falsche Verdachtsdiagnosen können also zu langem körperlichen und seelischen Leiden führen. Bei Männern in diesem Alter tippt man nicht selten zunächst auf einen stark erhöhten Alkoholkonsum – der häufigste Grund für Pankreatitis. Hier war es aber ganz anders.

Wie denn?
Johann Ockenga:
Im Falle des jungen Mannes haben wir mit einer ganzen Reihe von Untersuchungen und einem Gentest festgestellt, dass eine seltene atypische Form der Mukoviszidose vorliegt. Der Mann hatte keinerlei typische Symptome wie Atemnot.
Matthias von Mering: Auch in der Neurologie gibt es immer wieder solche Situationen: Wenn jemand zum Beispiel mit einem Krampfanfall ins Krankenhaus kommt, liegt ja erst einmal ein epileptischer Anfall nahe. Wenn während oder nach der Akutversorgung das Verhalten oder die ersten Untersuchungsergebnisse aber auffällig oder seltsam sind, nicht ins normale Schema passen, dann sind das erste Anhaltspunkte, dass es in eine andere Richtung gehen könnte.

Und dann beginnt die Detektivarbeit? Matthias von Mering:
Eine Diagnose ist ja immer etwas, das man auf Grundlage bestimmter Untersuchungsergebnisse und Hinweise stellt, egal ob es eine gewöhnliche oder eine seltene Erkrankung ist. Der Weg zur Diagnose einer seltenen Erkrankung ist nur meist länger und komplexer, es ist deutlich mehr Detektivarbeit nötig, um zum Ziel zu kommen. Man muss bereit sein, auch mal drei Schritte zurückzugehen, um den richtigen Pfad wiederzufinden und so der richtigen Diagnose näher zu kommen.

Hat man die Zeit denn überhaupt?
Matthias von Mering:
Man braucht Geduld – einerseits. Denn bestimmte Proben gehen manchmal erst für einige Tage ins Labor, weil dahinter ein großer Aufwand steckt. Aber parallel muss man ja auch mit der Behandlung des Patienten oder der Patientin beginnen, auch wenn man noch nicht hundertprozentig sicher sein kann, was er oder sie hat. Das ist oft ein Balanceakt. In der Neurologie ist häufig die Untersuchung des Nervenwassers ein wichtiger Hinweisgeber, ob etwas Entzündliches vorliegt. Man zieht die Raster dann immer feiner, bis man aus einem Wust von Antikörpern sagen kann: Die zwei oder drei könnten es sein, die einen den entscheidenden Schritt weiterbringen.

Johann Ockenga: Wir müssen uns als Team die Zeit nehmen und das machen wir auch. Für Medizinerinnen und Mediziner sind solche Fälle ja auch eine Herausforderung. Aber natürlich sind Zeit und Ressourcen immer knapp.

Diese Arbeit macht man vermutlich nicht als Einzelkämpfer im stillen Kämmerlein…
Johann Ockenga:
Man muss sich natürlich genau mit einem Fall auseinandersetzen. Aber einer seltenen Erkrankung auf die Spur zu kommen, ist immer auch eine große Teamleistung. Innerhalb der Klinik, in der man seine Kolleginnen und Kollegen eng einbezieht, fachübergreifend mit den Expertinnen und Experten anderer Kliniken im Haus, aber auch außerhalb des eigenen Krankenhauses.

Inwiefern?
Matthias von Mering:
Mit unseren vier Krankenhäusern haben wir natürlich schon einmal einen großen Pool an Erfahrung und Expertise. Darüber hinaus gibt es aber auch bundesweit Netzwerke für jeden Fachbereich, in denen man die von Natur aus wenigen Erfahrungen mit seltenen Erkrankungen teilt, gemeinsam bespricht, Fälle vorstellt. Das funktioniert oft klinikübergreifend. Wir sind zum Beispiel im Generate-Netzwerk, einer Plattform zur Erforschung autoimmuner Enzephalitis. NEMOS (Netzwerk für seltene neurologische Erkrankungen) ist ein weiteres deutschlandweites Netzwerk, das sich auf die Diagnostik, Therapie und Forschung von seltenen neurologischen Erkrankungen wie Neuromyelitis spezialisiert hat. Es bündelt die Expertise von Kliniken und Fachärzten, um eine optimale Versorgung der betroffenen Patientinnen und Patienten zu gewährleisten.

Wie sehr kann man mit dem Fortschritt der Medizin seltene Erkrankungen heute besser entdecken?
Johann Ockenga:
Natürlich sind die Diagnosemöglichkeiten in der modernen Medizin enorm gewachsen. Um noch mal auf den geschilderten Fall zurückzukommen: Ohne spezifische Gentests hätten wir die Diagnose gar nicht stellen können. Aber die Diagnose ist ja nur der Ausgangspunkt. Dann geht es weiter mit dem Finden der richtigen Behandlung, der richtigen Medikamente, um den Betroffenen dauerhaft helfen zu können.
Matthias von Mering: Mit der genaueren Diagnostik kann man aber auch Erkrankungen besser spezifizieren. Sogenannte NMO-Spektrum-Erkrankungen (NMO steht für Neuromyelitis-optica) – dabei handelt es sich um entzündliche Erkrankungen, die sich vor allem an Sehnerv und Rückenmark bemerkbar machen – galten früher als Multiple Sklerose. Heute sind sie eine eigene Unterform, eine eigene seltene Erkrankung.

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Vier Millionen Menschen leiden laut Bundesgesundheitsministerium allein in Deutschland an einer seltenen Erkrankung. Das ist in etwa so viel wie die Gesamtzahl der Betroffenen, die an der Volkskrankheit Diabetes mellitus leiden. Auch wenn die Symptome der seltenen Krankheiten sehr unterschiedlich sein können, so teilen viele Betroffene oft eine lange, mühselige Suche nach der richtigen Diagnose für ihr Leiden. Wer mit einer seltenen Erkrankung lebt, ist also alles andere als allein. Viele Patientenorganisationen sind für diese Menschen ein wichtiger Anlaufpunkt, um Erfahrungen auszutauschen, die richtigen Expertinnen und Experten zu finden und Unterstützung zu erfahren und nicht zuletzt die beste Hilfe zu erhalten. Eine große Plattform, auf der man Patientenorganisationen, Selbsthilfenetzwerke sowie je nach seltener Erkrankung die passenden Behandlerinnen oder Behandler findet, ist die Seite www.orpha.net. Einen guten Überblick bietet auch die Seite www.se-atlas.de.

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Weniger als 5 von 10.000

Eine Erkrankung gilt in der Europäischen Union als selten, wenn weniger als 5 von 10.000 Menschen davon betroffen sind. Bei einigen seltenen Erkrankungen sind bis zu 40.000 Menschen betroffen, bei anderen seltenen Erkrankungen kann es aber auch statistisch nur einer von einer Million Menschen sein.

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